Urgemeinde in Jerusalem: Die ersten Christen

Urgemeinde in Jerusalem: Die ersten Christen
Urgemeinde in Jerusalem: Die ersten Christen
 
»Sie sind ein Herz und eine Seele« lautet eine bekannte Redewendung; kaum jemand weiß jedoch, dass diese Redewendung aus der Bibel stammt. Mit ihr charakterisiert der Evangelist Lukas in der Apostelgeschichte die erste christliche Gemeinde in Jerusalem: »Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam« (4,32).
 
Heute wissen wir, dass Lukas ein sehr idealisiertes Bild der ersten christlichen Gemeinde gemalt hat. Ihm kam es weniger darauf an, historisch objektiv über die ersten Anfänge des Christentums zu berichten, sondern die Urgemeinde den. Christen seiner Zeit als leuchtendes Vorbild der Einheit und der gegenseitigen Liebe vor Augen zu stellen. Tatsächlich war aber schon das Leben in der Jerusalemer Urgemeinde nicht frei von Spannungen.
 
Wie kam es nun zur Entstehung der Jerusalemer Urgemeinde? Nach der Hinrichtung Jesu flüchteten die meisten seiner Anhänger aus Jerusalem und kehrten in ihre Heimat Galiläa zurück. In Galiläa geschah dann das, was Paulus im 1. Korintherbrief 15,5-7 wohl am historisch Zuverlässigsten wiedergibt: die Erscheinungen des hingerichteten Jesus von Nazareth vor seinen Anhängerinnen und Anhängern, die diese bald als Auferweckung Jesu von den Toten deuteten und verkündigten. Simon Petrus, dem Jesus nach dem Zeugnis des Paulus zuerst erschien, zog daraufhin mit den »Zwölf« und anderen Jesusanhängern zurück nach Jerusalem. Dort, im religiösen Zentrum Israels, erwarteten sie die Wiederkunft Jesu als Menschensohnrichter und das Ende der gegenwärtigen Weltzeit. Doch dann geschah am »Wochenfest«, dem zweiten großen jüdischen Wallfahrtsfest, fünfzig Tage nach dem »Passahfest«, das, was wir heute als Pfingstereignis bezeichnen. Der Geist Gottes kam über die in Jerusalem versammelten Jüngerinnen und Jünger Jesu. Was genau geschah, muss wohl im Dunkeln bleiben, doch die Folgen sind deutlich erkennbar. Die Jünger, allen voran Petrus, fassten den Mut, vor den vielen jüdischen Pilgern aus allen Teilen des Römischen Reiches öffentlich zu verkünden, dass Jesus von Nazareth von Gott auferweckt und als Messias (griechisch: Christus) eingesetzt wurde. Daraufhin muss die bisher kleine Gemeinde der Jesusanhänger beträchtlich angewachsen sein. Zu den neuen Mitgliedern gehörten von nun an nicht nur palästinische Juden aus den unterschiedlichsten Gruppen (Pharisäer, Apokalyptiker, Essener, Zeloten), sondern auch Juden aus allen Teilen der Diaspora. Anders als sich viele Christen heute vorstellen, fühlte sich die Urgemeinde zu diesem Zeitpunkt noch ganz innerhalb des Judentums. Die ersten. Christen waren also Juden, die regelmäßig zum Gebet in den Tempel gingen, die sich am Sabbat in ihren Synagogen versammelten und die in den heiligen Schriften ihres Volkes lasen. Von den anderen jüdischen Gruppen unterschieden sie sich am Anfang vor allem dadurch, dass sie Jesus von Nazareth als den Auferstandenen verkündigten und seine Wiederkunft als Menschensohn erwarteten. Von ihrem Selbstverständnis her sahen sie sich aber, wie zum Beispiel auch die Essener, nicht als eine Gruppe unter anderen, sondern als das wahre Gottesvolk, in das hinein ganz Israel gerufen war.
 
Wer in diese neue Gemeinschaft aufgenommen werden wollte, ließ sich zur Vergebung der Sünden taufen. Doch nicht die Taufe war die wichtigste Institution der ersten. Christen, sondern das gemeinsame Mahl. Dieses Mahl fand nicht für alle gemeinsam statt, sondern wurde aufgrund von Raumproblemen in verschiedenen Häusern gehalten. »Es war ein wirkliches Sättigungsmahl und entsprechend den Lebensumständen der damaligen Zeit oft die einzige sättigende Mahlzeit am Tag« (Ludger Schenke). Das galt besonders für die Armen und Unbemittelten. Mit ihm fest verbunden war der Ritus des »Brotbrechens« (Apostelgeschichte 2, 46), bei dem es sich vermutlich um den ältesten Eucharistietyp handelt. Die Urgemeinde setzte damit nicht nur das letzte gemeinsame Mahl Jesu mit seinen Jüngern fort, sondern erinnerte auch an die anderen Gemeinschaftmähler des irdischen Jesus..
 
Doch herrschten auch in der Urgemeinde nicht nur Eintracht und Friede; das kann selbst der auf Harmonie bedachte Lukas nicht ganz verschweigen. Nach Apostelgeschichte 6,1 begehrten nämlich die Hellenisten gegen die Hebräer auf, weil ihre Witwen bei der täglichen Versorgung übersehen wurden. Um diesen Missstand zu beheben, wählte die Gemeinde sieben Diakone aus den Hellenisten, die für den Dienst beim gemeinsamen Mahl verantwortlich waren. Hinter diesem vordergründig um die tägliche Nahrungsversorgung kreisenden Konflikt lag allerdings noch ein anderes Problem, nämlich das der unterschiedlichen Herkunft und Sprache beider Gruppen. Die Hellenisten waren Diasporajuden, die in der Regel nur Griechisch sprechen konnten, während die Hebräer aus Palästina stammten und natürlich Aramäisch sprachen. Die Verständigung zwischen beiden Gruppen war allein schon deshalb schwierig. Weil zwei der bedeutendsten Diakone, Stephanus und Philippus, sonst nur noch als wortgewaltige Missionare auftreten, nehmen wir heute an, dass die sieben Diakone das Leitungsgremium der Griechisch sprechenden Gemeinde bildeten. Durch ihre Wahl wurde die Jerusalemer Urgemeinde faktisch getrennt in Hebräer und Hellenisten. Leitungsgremium der gesamten Gemeinde blieb aber weiterhin der Zwölferkreis mit Petrus an der Spitze.
 
Zwischen den »Hellenisten« und den »Hebräern« gab es aber nicht nur sprachliche, sondern auch gravierende theologische Unterschiede. Anders als die Hebräer stellten die Hellenisten schon bald den Tempel und den Tempelkult in Jerusalem in Frage. Für sie war der Tempel immer weniger Ort der Gegenwart Gottes, durch ihn konnte auch keine Erlösung geschehen. Das alles erwarteten sie allein von Kreuz und Auferstehung Jesu. Diese Kritik am Tempel führte letztlich zur Steinigung des Stephanus und zur Vertreibung der Hellenisten aus Jerusalem. Sie wurden zum Kern einer neuen Missionsbewegung, die in den hellenistischen Städten Palästinas, in Samaria, in Phönikien und sogar in Zypern und Antiochien das Evangelium von Jesus Christus verkündete.
 
Inwieweit die in Jerusalem verbliebenen Mitglieder der Urgemeinde, von denen viele die Tempelkritik der Hellenisten nicht teilten, unter der Situation zu leiden hatten, wissen wir nicht. Sie mussten seitdem aber immer wieder mit Ausschreitungen gegen sie als Christusanhänger rechnen. So ließ zwischen 41 und 44 n. Chr. ein Enkel Herodes des Großen, Agrippa I., den Zebedaiden Jakobus umbringen. Petrus erwartete dasselbe Schicksal, kam aber frei und verließ bald darauf Jerusalem.
 
Eine immer wichtigere Rolle in der Jerusalemer Urgemeinde übernahm nach der Vertreibung der Hellenisten der Herrenbruder Jakobus. Er gehörte zwar nicht zum Zwölferkreis, galt aber als »Apostel«. Nach demTod des Zebedaiden Jakobus und dem Weggang des Petrus von Jerusalem übernahm er die Leitung der Urgemeinde. Von Josephus Flavius wissen wir, dass dieser Jakobus 62 n. Chr. ebenfalls den Märtyrertod erlitt. Nicht lange danach, zu Beginn des Jüdischen Krieges 66 n. Chr., hat dann die gesamte Urgemeinde Jerusalem verlassen. Damit endet nicht nur ihre Geschichte, sondern auch das erste Kapitel des frühen. Christentums.
 
Dr. Angelika Strotmann
 
 
Brown, Peter: Die Entstehung des christlichen Europa. Aus dem Englischen. München 1996.
 
Christologie, bearbeitet von Karl-Heinz Ohlig. Band 1: Von den Anfängen bis zur Spätantike. Graz u. a. 1989.
 Klauck, Hans-Josef: Die religiöse Umwelt des Urchristentums, Band 1: Stadt- und Hausreligion, Mysterienkulte, Volksglaube. Stuttgart u. a. 1995.
 Ohlig, Karl-Heinz: Fundamentalchristologie. Im Spannungsfeld von Christentum und Kultur. München 1986.
 Schenke, Ludger: Die Urgemeinde. Geschichtliche und theologische Entwicklung. Stuttgart u. a. 1990.
 Vouga, François: Geschichte des frühen Christentums. Tübingen u. a. 1993.

Universal-Lexikon. 2012.

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